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Hier ein kleiner Vorgeschmack:

Der kleine Geländewagen ruckte, wühlte sich fest und blieb in einer Mischung aus Sand, Meerwasser und Algen stecken. Leise vor sich hin fluchend stieg Johann Capell aus dem Auto. Nach einem Blick auf beide Hinterräder begriff er sofort, dass es völlig aussichtslos war, sich ohne fremde Hilfe von hier weg zu bewegen. Also musste er wohl oder übel den Rest der Strecke zu Fuß gehen, wollte er hier nicht am Strand übernachten. Er schlug den Kragen seinesgefütterten Parkas hoch und knallte die Wagentür mit voller Wucht ins Schloss.
Dann blickte er zum Meer hinaus, wo mehrere Möwen sich um einen Fischkadaver stritten, der auf einer kleinen Sandbank angetrieben worden war.
Wie ein Keil lag die See zwischen beiden Ländern. Eigentlich ein faszinierender Anblick. Doch jetzt Ende Oktober, wo sich die Herbststürme oft tagelang austobten und die feuchte Kälte bis unter die Haut drang, zogen es selbst die Eingeborenen vor, in ihren Häusern  zu bleiben.
Capell wandte sich ab und marschierte mit eingezogenem Kopf und anliegenden Armen, so dass seine kleinwüchsige Gestalt merkwürdig aufgeblasen wirkte, die sandige Böschung hinauf in Richtung Landstraße. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt, und von der dänischen Seite der Förde trieb feiner weißer Nebel auf den deutschen Strandabschnitt zu.
Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte er.
Um sich von seiner üblen Laune und dem schlechten Wetter abzulenken, kontrollierte er in Gedanken seinen restlichen Tagesablauf.
Als erstes würde er sich einen Tee aufgießen. Wie immer um diese Uhrzeit. Doch ein Blick auf seine Armbanduhr machte die Hoffnung zunichte, pünktlich zu Hause anzukommen.
Es war nicht so, dass jemand auf ihn wartete oder er noch irgendwo einer Verabredung hinterher hinkte. Nein. Capell verlangte geradezu nach Regeln. Grundsätze, die er selbst aufgestellt und nach denen er sein bisheriges Leben ausgerichtet hatte. Und dazu zählte nun mal auch ein geregelter Tagesablauf.
Noch zwanzig Minuten, dann war es halb fünf. Im Geist sah er sich mit einer heißen Kanne feinstem Darjeeling vor dem Kamin sitzen, die Füße in, bis zu den Knöcheln reichenden, wollenen Pantoffeln. Capell liebte das Karomuster seiner Hausschuhe, genauso sehr wie die unzähligen kleinen Dreiecke und Quadrate, die er auf seine Schreibtischunterlage gekritzelt hatte. Klare Linien und strikte Formen gaben ihm Sicherheit, grenzten ihn ab. Und Capell legte Wert auf diese persönliche Abgrenzung.
Erst recht nach seiner Pensionierung als Fregattenkapitän der Marine. Sollte die Welt um ihn herum doch in ihrem Morast aus Dummheit, Chaos und dem unterschwelligen Drang nach Unterwerfung versumpfen. Was ging es ihn an? Er hatte das Gefüge für den Rest seines Lebens gefunden. Zugegeben, etwas inhuman, aber dafür klar strukturiert.
Ebenso liebte er die flachen, kleinen, vom Salzwasser geschliffenen Kiesel, die hier in Unmassen am Strand herum lagen und derentwegen er hier war. Und Bernstein natürlich. Auch wenn letzterer immer seltener wurde, Capell kannte immer noch ein paar einsame Stellen, wo er ab und zu fündig wurde.
Auch heute steckten in seiner Manteltasche zwei daumennagelgroße hellbraune Steine. Unvollendete, ausdruckslose Strukturen, die darauf warteten, nach seinem Willen gebrochen und schließlich neu geformt zu werden. Noch heute Abend würde er sie in seiner Werkstatt im Keller schleifen. Am liebsten fertigte er Würfel, die er dann in eine gläserne Vitrine in seinem Schlafzimmer stellte.
Nach einem weiteren Blick auf die Zeiger seiner Uhr wurde ihm klar, dass er seinen vorgegebenen Zeitplan nicht würde einhalten können. Capell merkte, wie diese Tatsache an ihm zehrte, und beschleunigte abermals seine Schritte. Längst hatte er den Strand verlassen und lief stattdessen auf der Landstraße, als er hinter sich ein Geräusch wahrnahm.
Er wandte den Kopf nach hinten und gestattete sich die vage Andeutung eines Lächelns. Vielleicht war dies ja die Möglichkeit, seinen Tagesplan einhalten zu können, und einem jähen Impuls folgend, streckte er den Daumen in die Höhe.
Als der dunkelblaue Mercedes Sekunden später neben ihm stoppte, zuckte er erschrocken zusammen.
Hatte er sich zu weit vorgewagt? Es war ihm mehr als unangenehm, die Hilfe anderer in Anspruch nehmen. Jedenfalls, wenn es sich vermeiden ließ. Hilfe bedeutete Konversation und diese wiederum war unweigerlich mit menschlicher Nähe verbunden. Capell hasste Nähe, doch das ließ sich jetzt leider nicht mehr vermeiden. Außerdem war sein Leben seit mehreren Wochen nicht mehr das Gleiche. Er war nicht mehr Jäger, sondern Gejagter. Auch wenn ihm dies im Augenblick noch nicht sonderlich viel Angst einflößte, ließ es ihn zumindest vorsichtig werden.
In diesem Moment wurde die Seitentür aufgestoßen. Capell beugte seinen Oberkörper in das Wageninnere. Angenehme Wärme schlug ihm entgegen. Er strich sich über sein spärliches weißes Haar und beschloss, die Peinlichkeit der Situation zu ignorieren.
»Entschuldigen Sie bitte«, begann er, »aber mein Auto ist am Strand liegen geblieben und leider habe ich auch mein Handy nicht dabei. Könnten Sie mich wohl bis nach Drei mitnehmen?« Dass er gar kein Mobiltelefon besaß, verschwieg er.
Statt einer Antwort nickte der Fahrer lediglich und deutete ihm an einzusteigen. Hastig wischte Capell über seine sandigen Schuhe und setzte sich. Sofort gab der Unbekannte hinter dem Steuer Gas.
 »Wissen Sie«, versuchte Capell, gänzlich gegen seine Gewohnheit, ein Gespräch in Gang zu bringen, »normalerweise ist es nicht meine Art, Autos auf der Straße anzuhalten, aber wie gesagt bin ich in einer Art Notsituation, die es mir leider nicht erlaubt anders zu handeln.«
Er warf einen Seitenblick auf den Fahrer des Wagens. Ihm fiel auf, dass der Mann neben ihm noch kein einziges Wort gesprochen hatte.
Dann eben nicht, dachte er. Ist mir auch lieber so. Keine Konversation ist besser als dieses ewige Geschwätz. Also schwieg er.
Der Fremde griff neben ihm in seine Jackentasche und fischte eine Zigarette heraus. Capell bemerkte, dass der Mann Handschuhe trug.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, nicht zu rauchen?« fragte er in seinem typischen Befehlston. Doch der Mann neben ihm schien ihn entweder nicht zu verstehen oder ignorierte seine Bitte schlichtweg. Genüsslich zündete er sich eine filterlose Zigarette an und blies den Rauch dabei in Capells Richtung.
»Entschuldigen Sie bitte, aber wäre es vielleicht möglich…« Capell hatte sich erneut dem Fremden zugewandt und brach seinen Satz unvermittelt ab.
Stattdessen begannen seine Gehirnwindungen zu rotieren und setzten einen Abruf sämtlicher zwischenmenschlicher Erinnerungen der letzten Jahre in Gang. Irgendwie hatte er das Gefühl, dieses kantige Gesicht mit der außergewöhnlich breiten Nase und dem hervorstehenden Kinn schon einmal gesehen zu haben.
»Ist es nicht.«
»Was meinen Sie?« Capell blickte den Mann stirnrunzelnd von der Seite an.
Diese Stimme, überlegte er, wo habe ich diese Stimme schon einmal gehört?
»Rauchen. Es beruhigt die Seele und tötet die Angst.« Der Mann sprach leise, mit einem Timbre, das Capell unruhig werden ließ.
In diesem Moment tauchte vor ihnen das gelbe Ortsschild aus dem dichter gewordenen Nebel auf. Der Fremde setzte den Blinker und bremste leicht ab.
Capell rutschte auf seinem Sitz hin und her. Woher, zur Hölle, kannte der Fremde diesen Satz. Es waren seine Worte, mit denen er damals versucht hatte, als er selbst noch Raucher war,  seine eigenen Nerven, zu beruhigen.
Er beugte den Kopf ein Stück nach vorn, um das Profil seines Fahrers besser studieren zu können.
Die Wimpern des Mannes zuckten, während er gleichzeitig mit seinen oberen Schneidezähnen seine Unterlippe bearbeitete. Das Ganze hatte etwas perfides, fast Angst einflößendes.
Dieses Gesicht, dachte er, woher kenne ich es?
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich mitgenommen haben«, äußerte Capell immer noch äußerlich gelassen, »aber wenn Sie jetzt bitte anhalten würden?« Im selben Augenblick schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.
Woher kannte der Mann eigentlich seine Adresse? Einigermaßen beunruhigt drehte er den Kopf und blickte in das Gesicht des Mannes.
»Nein.« Die Stimme des Fremden klang erschreckend monoton und stand im krassen Widerspruch zu seinem Minenspiel.
»Bitte?«
Statt einer Antwort bog der Unbekannte erneut ab und steuerte direkt auf Capells Haus zu, das einsam etwa einen Kilometer hinter dem Ort auf einer kleinen Anhöhe lag.
»Woher kennen Sie meine Adresse?« Capell spürte, wie ihm Angst den Rücken hinaufkroch. Und er ahnte, dass der Fremde nicht zufällig die Straße entlang gefahren war. Und dass er noch etwas anderes mit ihm vorhaben könnte, als ihn nur zu seinem Haus zu bringen. Worum es sich dabei handelte, daran wagte er gar nicht zu denken.
Er war kein Schwächling, aber mit vierundsechzig Jahren auch nicht mehr der Jüngste. Außerdem behinderte ihn schon seit Jahren ein steifer Arm.
Krampfhaft suchend blickte er aus dem Fenster, um sich an einer günstigen Stelle aus dem Wagen zu werfen. Doch es war aussichtslos. Der Fremde fuhr einfach zu schnell.
In diesem Augenblick stoppte der Wagen so abrupt, dass Capell sich festhalten musste, um nicht nach vorn geschleudert zu werden. In einer Mischung aus Furcht und Wut wandte er den Kopf.
»Was in Herrgottsnamen …« Capell brach unvermittelt ab und erstarrte.
Der Mann neben ihm hielt etwas in der Hand. Dabei lächelte er.
Zu spät erkannte Capell, dass es sich um einen Totschläger handelte.
Vorsichtig öffnete er die Augen. Es war dunkel um ihn. Schwach nahm er den Geruch von frischem Harz und Terpentin wahr und wusste, trotz der Dunkelheit um ihn herum, sofort wo er sich befand. Dies hier war die Werkstatt seines Kellers. Capell stellte überrascht fest, dass er, bis auf sein Oberhemd nackt, auf einem Stuhl saß. Vorsichtig versuchte er sich zu bewegen, merkte aber sofort, dass seine gesamten Gliedmaßen untrennbar mit der Armlehne beziehungsweise den Beinen des Stuhls durch Klebeband verschnürt waren.
Doch da war noch etwas. Unterhalb seines Rückens fühlte er einen schier unerträglich stechenden Schmerz, der tief in seine Gedärme drang und jede Bewegung zur absoluten Tortur werden ließ.  Capell stöhnte gequält auf.
Draußen tobte der Sturm. Capell konnte trotz der dicken Außenwände hören, wie der Wind um das Haus fegte und lose Blätter aufwirbelte.
Wie lange saß er schon hier? Aufgrund seiner Bewusstlosigkeit schien jedes Zeitgefühl abhanden gekommen zu sein. Wo war sein Peiniger? Und was wollte er von ihm? Capell dachte fieberhaft nach, soweit der schier unerträgliche Schmerz ihm das erlaubte. Dass der Fremde kein einfacher Einbrecher war, der jetzt über ihm in aller Ruhe sein Haus ausräumte, sah er als gegeben an. Dafür war es zu ruhig über ihm. Es musste etwas anderes sein. Etwas, das direkt mit seiner Person in Beziehung stand. Oder mit seiner Vergangenheit.
Und Capell besaß eine bemerkenswerte Vergangenheit.
Und er wusste, dass er den Fremden schon einmal gesehen, und irgendwann eine, wie auch immer geartete, Verbindung zwischen ihnen bestanden hatte. Waren die Kinder der Dunkelheit zu ihm zurückgekehrt um sich zu rächen?
Konzentriere dich, dachte er, wo ist dieser Mann schon einmal in deinem Leben aufgetaucht. Doch die Angst, die einst andere gegenüber seiner Person empfunden hatten, hielt ihn jetzt fest umklammert und erstickte jeden klaren Gedanken im Keim. Capell rann der Schweiß in Bächen. Und da war noch etwas anderes. Er spürte verkrustetes Blut auf der Stirn und seiner linken Gesichtshälfte. Langsam neigte er den Kopf zur Seite und versuchte, das Gesicht an seiner Schulter abzuwischen. Im selben Augenblick nahm er ein Geräusch wahr. Sofort fuhr Capells Kopf wieder nach oben.
Intensiv lauschte er in die Dunkelheit. Da war es wieder. Es schien, als riebe jemand ganz in seiner unmittelbaren Nähe leise seine Handflächen aneinander. Und abermals roch es nach Zigarettenrauch.
Erneut brach ihm der Angstschweiß aus. Er wusste jetzt, wo sich der Fremde befand. Capell begann am ganzen Körper unkontrolliert zu zittern, als ein weiteres Geräusch an seine Ohren drang.
Seine Nackenhaare begannen sich aufzurichten, denn er wusste, was in diesen letzten Sekunden seines Lebens mit ihm geschehen würde.
Plötzlich wurde sein Kopf an den Haaren brutal nach hinten gerissen.
»Beruhigt die Seele, tötet die Angst…«Die Stimme, dicht an seinem Ohr, war nur noch nur ein Flüstern. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Und dann, als sich der dünne Draht um seine Kehle legte, schrie Capell so laut er konnte.

SIE WERDEN SICH FÜRCHTEN !!!